Wie geht es eigentlich dem Alkohol?

    Schwer
    Deutsch perfekt 11/2022
    Flaschen mit alkoholischen Getränken
    © Adam Wilson/Unsplash.com
    Von Vanessa Vu

    Als sie an einem Wochenende 200 Pakete packte, Flaschen in Kartons legte und Adressen im ganzen Land darauf klebte, da war Isabella Steiner klar: Jetzt kommt was, und es wird groß. Das ist dieser der Wandel, -VeränderungWandel, an den sie seit Jahren glaubt. Für den sie erst ein das Onlinemagazin, -eZeitschrift, die im Internet publiziert wirdOnlinemagazin, dann einen Onlineshop und dann einen kleinen Laden aufbauenhier: entwickeln; neu machen; gründenaufgebaut hat. Zuletzt hat Steiner auch ein Buch geschrieben, das auf der Rückseite behauptet: „Die Zukunft von Alkohol ist alkoholfrei.“

    Es ist nicht nur der der Werbespruch, -sprüchekurzer Satz in der Werbung, den man sich gut merken kannWerbespruch eines weiteren jungen Start-ups. Das wird schnell klar, wenn man die 32-Jährige in ihrem Null Prozent der Späti, -s (berlin.)ugs.: kurz für: Spätverkaufsstelle = kleiner Laden, der außerhalb der üblichen Ladenöffnungszeiten geöffnet hatSpäti im Berliner der BergmannkiezTeil vom Berliner Stadtteil KreuzbergBergmannkiez trifft. Mehr als 200 Sorten Wein und Kästen voller Bier mit maximal 0,5 Prozent Alkohol stehen dort in Metallregalen. In Ginflaschen finden sich aber auch „Botanicals“, „Spirits“ und „Elixiere“. Auch Whiskey-Alternativen kann man kaufen. Zwischen den Flaschen gibt es der Spruch, Sprüchekurzer Satz, den man sich gut merken kann; hier: kleiner Vers; lustiger oder schlauer SatzSprüche zu lesen wie „Morgen noch wissen, was heute los war“.

    Steiner verkauft nicht nur Alkoholalternativen. Sie verkauft eine alternative Trinkkultur. Diese gibt es in den USA und in Großbritannien schon länger: Mindful Drinking heißt die Idee, weniger bis gar keinen Alkohol mehr zu trinken.

    Um gut zu sich selbst und zur Umwelt zu sein, tun Menschen heute vieles: Sie essen wenig oder kein Fleisch aus die MassentierhaltungTierhaltung in Großbetrieben mit dem Ziel, möglichst viele tierische Produkte herzustellen (die Tierhaltung  , von: ein Tier halten = ein Tier besitzen)Massentierhaltung, kaufen fair hergestellte Kleidung, benutzen keine Kosmetik mit giftigen Substanzen. Sogar die Zigarette, früher die Begleiterin, -nenhier: Gegenstand, den man immer dabei hatBegleiterin für jede Situation, sieht man seltener in der Öffentlichkeit.

    Doch wenn am Feierabend die erste Flasche Wein auf den Tisch kommt, sagt Steiner, „interessiert sich niemand mehr für die Kalorien, die Inhaltsstoffe und den der Kater, -männliche Katze; hier: ugs.: körperlich und psychisch schlechter Zustand, weil man (zu) viel Alkohol getrunken hatKater danach“. Das, denkt sie aber, wird sich bald ändern.

    74 Prozent mehr alkohol­freies Bier

    wurde 2021 im Vergleich zu vor zehn Jahren verkauft.

    Ein Blick in die Statistiken zeigt, dass diese These nicht absurd ist: Seit Jahrzehnten trinken auch die Deutschen immer weniger Alkohol. Wie man im Jahrbuch die Sucht, -enKrankheit, bei der der Körper jeden Tag eine spezielle Substanz braucht (z. B. Alkohol, Kokain oder Nikotin), sonst fühlt man sich schlechtSucht 2021 lesen kann, verbrauchte eine Person im Jahr 1980 durchschnittlich 15,1 Liter Reinalkohol. Im Jahr 2018 waren es 10,7 Liter. Beim Bier sank der Konsum in dieser Zeit von 8,5 Litern Reinalkohol auf fünf Liter.

    Zwar sagen Epidemiologinnen und Epidemiologen, dass der Verbrauch im internationalen Vergleich noch ziemlich hoch ist. Sie interpretieren die Entwicklung der letzten zehn, fünfzehn Jahre mehr als Stagnation. In Umfragen zur Pandemie sagten außerdem viele Menschen, dass sie mehr trinken.

    Trotzdem: Alkohol ist heute schon lange nicht mehr so beliebt wie noch in den 70ern und 80ern. Und das macht eine ganze Branche aktiv. Der der Umsatz, -sätzeGesamtwert der verkauften WarenUmsatz mit alkoholfreien Bieren ist in den letzten zehn Jahren um 74 Prozent gewachsen. Alkoholfreier der Sekt(normalerweise) alkoholisches Getränk, ähnlich wie ChampagnerSekt hat inzwischen einen der Marktanteil, -eMenge Verkäufe einer speziellen Sorte im Vergleich zur verkauften Menge insgesamtMarktanteil von fünf Prozent.

    Für Steiner hat der Wandel 2015 begonnen. Da hat sie im Soziologiestudium die Sobrien- und Sober-Curious-die Bewegung, -enhier: (organisierte) Gruppe mit einer speziellen LebensphilosophieBewegungen kennengelernt: In England und den USA sich abwenden vonsich wegdrehen von; hier: nicht mehr trinkenwendeten sich hip≈ modern; zur aktuellen Mode passendhippe, junge Menschen sich abwenden vonsich wegdrehen von; hier: nicht mehr trinkenvom Alkohol sich abwenden vonsich wegdrehen von; hier: nicht mehr trinkenab und entwickelten nullprozentige Getränke. Den ersten Hype verursachte Seedlip, eine herbleicht bitterherbe, klarhier: so, dass man durchsehen kannklare die Flüssigkeit, -enSubstanz wie z. B. WasserFlüssigkeit mit Aromen aus die Kräuter (Pl.)Pflanzen, von denen man die Blätter als Gewürz oder Medizin verwendetKräutern, Gewürzen und die Rinde, -n≈ harte, feste Haut eines BaumesRinden. Der Hersteller nennt es die weltweit erste destillierte, nicht alkoholische die Spirituose, -nstarkes, alkoholisches GetränkSpirituose.  

    Auch Steiner begann in dieser Zeit, ihr das TrinkverhaltenArt, was, wie und wie viel man normalerweise trinktTrinkverhalten kritisch zu betrachten: der unangenehme Kater. Die Freundinnen, die sie eigentlich nur zum Trinken trifft. Sie las Daniel Schreibers Bestseller nüchternhier: <-> betrunken; so, dass man keinen Alkohol getrunken hatNüchtern: Über das Trinken und das Glück. Inspiriert und beeindruckt vonso, dass man … sehr toll findet/fandbeeindruckt von der Gesellschaftsanalyse des Autors dokumentierte Steiner ein Jahr lang ihren der Alkoholkonsum/AlkoholkonsumTrinken von AlkoholAlkoholkonsum in einer App – und erschrak. Hatte sie ein Alkoholproblem? Steiner sagt: „Ich würde behaupten, dass die ganze Gesellschaft ein Problem hat.“

    Die Alkoholforschung würde ihr recht geben. Deutschland gilt als das Hochkonsumland, -länderhier: Land, in dem sehr viel Alkohol getrunken wirdHochkonsumland. Der weltweite Durchschnittskonsum liegen beihier: betragenlag laut Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2016 liegen beihier: betragenbei 6,4 Liter Reinalkohol pro Person. In Deutschland wurde durchschnittlich mehr als doppelt so viel getrunken, nämlich 13,4 Liter. Das hat fatale Konsequenzen: Pro 100 000 Einwohnerinnen sterben hier 16 an den die Folge, -nhier: Ergebnis; KonsequenzFolgen von Alkohol.

    200 Krankheiten

    bekommen Menschen häufiger, wenn sie täglich Alkohol trinken.

    Lange Zeit sagte man, dass ein Viertelliter Wein pro Tag sogar gut für Herz und das Gefäß, -ehier: Bahn im Körper, in der sich das Blut bewegtGefäße ist. sich verabschieden vonhier: nicht mehr glauben anVon diesem Mythos hat sich verabschieden vonhier: nicht mehr glauben ansich die die Fachwelt≈ alle Experten und Fachleute zusammenFachwelt spätestens 2018 sich verabschieden vonhier: nicht mehr glauben anverabschiedet. Damals erschien in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet die bis dahin größte Studie zu dem Thema. Das Ergebnis: Keine Menge an Alkohol ist gut für die Gesundheit.
    Im Gegenteil: Schon ab einem Achtelliter Wein pro Tag, also ab einem Glas, wird bei Männern das Risiko für rund 200 physische und psychische Krankheiten deutlich größer. Frauenkörper entwickeln schon ab der Hälfte dieser Menge die Lebererkrankung, -enKrankheit der Leber (die Leber, -n , großes, robraunes inneres Organ, das das Blut von Giften reinigt)Lebererkrankungen und der Brustkrebsgefährliche Krankheit, bei der in der Brust Tumore wachsenBrustkrebs.

    2018 veröffentlichte auch das Deutsche das Ärzteblatt, -blätterZeitschrift für ÄrzteÄrzteblatt neue Normen zum der Umganghier: Art, etwas zu benutzenUmgang mit Alkohol mit dem Titel Konsum bedeutet immer Risiko. Es gilt als sicher: Sogar kleine Mengen Alkohol erhöhen das Risiko für Organschäden, Herz-der Kreislaufhier: Bewegung des Blutes im KörperKreislauf- und Krebs­erkrankungen. Trotzdem glauben noch immer viele Menschen an den Mythos von der unproblematischen Dosis.  

    Von Krankheit und Sucht möchte die Berlinerin Steiner aber nicht sprechen. Sie sagt auch nicht, dass Alkoholkonsum etwas Schlechtes ist. Steiner will eine Alternative, die genauso gut ist wie Alkohol. Auch will sie eine Motivation zum „bewussthier: so, dass man sein Handeln gut überlegtbewussten Konsum“ geben und die Trinkkultur erweiternhier: das Angebot größer machenerweitern. Schließlich hat sie Spaß am Experimentieren. Aber wie viel Einfluss hat diese junge, gesundheitsbewusste, oft urbane und weibliche Avantgarde, zu der Steiner gehört? Kann sie die die Masse, -nhier: große Zahl der MenschenMasse überzeugen?

    Im 18. und 19. Jahrhundert konnten nur radikale politische Reformen die Alkoholexzesse eindämmenhier: weniger machen; verhindern, dass etwas schlimmer oder größer wirdeindämmen. Beim Zigarettenkonsum waren Rauchverbote, Werbeverbote, Schockbilder und Steuererhöhungen notwendig. Europäische Länder wie Schweden, Frankreich und Italien machen das beim Alkohol heute ähnlich. In Schweden einschränkenreduzieren; limitierenschränkte die Regierung Alkoholwerbung zum Beispiel stark einschränkenreduzieren; limitierenein, auf den Flaschen kleben Warnhinweise. Auch die Preise stiegen durch eine höhere die Besteuerungvon: besteuern = hier: Steuern verlangen von/fürBesteuerung. Seitdem gehört Schweden zu den Ländern mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Konsum in Europa.

    Circa zwei Milliarden Euro

    bringen Verkäufe aus alkoholischen Getränken jedes Jahr.

    Deutschland aber ist bei Alkoholwerbung und -verkauf noch immer eines der global großzügigsten Länder. Die Konsequenz sind stabile Steuereinnahmen: Seit den 80ern bringen Verkäufe aus alkoholischen Getränken jedes Jahr circa zwei Milliarden Euro Steuern.

    Aktueller der Drogenbeauftragte, -nPerson mit offiziellem Auftrag, die für Fragen der Drogenpolitik zuständig istDrogenbeauftragter der Bundesregierung ist der sozialdemokratische Politiker Burkhard Blienert. Er hat empfohlen, die Altersgrenze zum Kauf und Konsum von Alkohol zu erhöhen. Noch liegt sie bei 16 Jahren. Blienert hat aber auch vorsichtig ergänzt: Was politisch möglich ist, wird man sehen.

    Steiner glaubt an die alkoholfreie Zukunft. Das nimmt ihr die Angst vor den Risiken, die sie als Pionierin hat. Vor dem schnellen das Wachstumdas WachsenWachstum, das sie mit ihrem kleinen Team in Berlin vorantreibenmachen, dass sich etwas schnell entwickeltvorantreibt.

    Und eigentlich, sagt sie, ist das alles „auch ein Versuch, mich selbst zu überzeugen“. Sie trinkt nämlich noch immer Alkohol, sehr gern sogar. Steiners Start-up ist auch die Suche nach Getränken, die so aussehen und schmecken, dass sie selbst irgendwann alkoholfrei trinkt.