„Mir geht es um die Wahrheit“

    Mittel
    Deutsch perfekt 3/2018
    KZ-Karteikästen
    © Boris Schmalenberger
    Von Gesa Steeger

    Der Holocaust, dokumentiert auf 1,7 Millionen gelben die Karteikarte, -nKarte aus stabilem Papier mit speziellen InformationenKarteikarten: In Ludwigsburg liegt die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltung≈ juristische Administration eines Bundeslandes (das Bundesland, -länder: Teil einer föderalistischen Republik)Landesjustizverwaltungen zur die Aufklärungvon: aufklären = hier: entdecken, wann wer eine kriminelle Sache gemacht hatAufklärung nationalsozialistischer das Verbrechenkriminelles Tun, kriminelle SacheVerbrechen. Hier stehen Schränke voll mit Dokumenten zu den Verbrechen der Nationalsozialisten: die Orte der Verbrechen im In- und Ausland, was dort passierte, wer das Opfer, -hier: Person, die durch die Nazis verletzt oder getötet wurde (töten , totmachen)Opfer war und wer Täter.

    Hier irgendwo stehen auch die Namen der Männer, die Leon Schwarzbaums Familie ermordeneinen Menschen absichtlich so verletzen, dass er stirbtermordet haben. Schwarzbaum war Anfang 20, als seine Eltern nach Ausch­witz deportiert wurden. Kurz darauf wurde auch er in das Lager geschickt. Seine Eltern hat er nie wieder gesehen. Sie wurden wahrscheinlich direkt nach ihrer Ankunft umbringeneinen Menschen absichtlich so verletzen, dass er stirbtumgebracht.
     

    Mir geht es um die Wahrheit. Was ist damals genau passiert? Was haben diese Männer gedacht?


    Januar 2018: Schwarzbaum sitzt auf einem hellen Sofa in seiner Wohnung in Berlin-Grunewald und sieht sich die Reste seiner Vergangenheit an: Schwarz-Weiß-Fotos aus den 20er- und 30er-Jahren. Ausflüge ans Meer, Liebespaare. Dokumente des Lebens im polnischen Bendzin, Schwarzbaums Heimatstadt. Rund 22 000 der Jude, -nPerson, deren Religion die Thora als Basis hatJuden lebten dort vor dem Krieg. Die Fotos wurden nach der die Befreiung, -envon: befreien = hier: gefangene Menschen wieder in die Freiheit lassenBefreiung in Auschwitz gefunden. Schwarzbaum schaut sie still an. Er zeigt auf ein Foto seiner Abiturklasse. Ein paar junge Menschen, die in die Kamera lächelnhier: freundlich lachenlächeln. „Was soll man sagen? Dass man überlebt hat und die anderen tot sind?“

    Schwarzbaum ist 97, ein Alter, in dem die Vergangenheit näher ist als die Zukunft. Auf seinem Tisch steht ein Familienfoto: Vater, Mutter, Onkel und ein 14-jähriger Leon im dunklen Anzug. Leon Schwarzbaum ist einer der wenigen der Häftling, -ehier: Person, die im Konzentrationslager eingeschlossen warHäftlinge, die Auschwitz lebend verlassenhier: hinauskommen ausverlassen konnten. Im der Prozess, -ehier: Untersuchung im GerichtProzess um Reinhold Hanning war er der Nebenkläger, -Person, die bei einem Verbrechen verletzt wurde und, wie die Staatsanwaltschaft auch, eine andere Person anklagt.Nebenkläger. Hanning war Wachmann in Ausch­witz, Schwarzbaum war zur gleichen Zeit Häftling. Während der die Verhandlung, -enhier: Prozess im GerichtVerhandlung sprach er direkt zum der Angeklagte, -nvon: anklagen: hier: jemanden verantwortlich machen; jemandem für etwas die Schuld gebenAngeklagten: „Herr Hanning, wir sind fast gleich alt – 95 Jahre – und Wir stehen bald beide vor dem höchsten Richter.≈ Wir müssen beide bald sterben. (der Richter, -: Person, die im Gericht nach einem Prozess sagt, ob und welche Strafe jemand bekommen soll; gemeint ist hier: Gott)wir stehen bald beide vor dem höchsten Richter. Ich möchte Sie auffordernjemanden offiziell bitten, etwas zu tunauffordern, uns die historische Wahrheit zu erzählen. Sprechen Sie hier an diesem Ort über das, was Sie und Ihre der Kamerad, -enhier: Soldat, mit dem man im Konzentrationslager aufgepasst hatKameraden getan oder erlebt haben – so wie ich es für meine Seite tue.“
     

    Leon Schwarzbaum in einem Interview mit der Deutschen Welle vom 28.01.2018. Es gibt auch eine englische Version des Interviews.


    35 Familienmitglieder von Schwarzbaum wurden getötet. Wahrscheinlich sind rund 1,1 Millionen Menschen in Auschwitz ermordet worden. Schwarzbaum es geht um …hier: das Wichtigste ist …geht es nicht es geht um …hier: das Wichtigste ist …darum, alte Männer ins Gefängnis zu bringen. „Mir geht es um die Wahrheit. Was ist damals genau passiert? Was haben diese Männer gedacht?“

    Leon Schwarzbaum sind neben dem Fotobuch zwei Dinge seiner Heimatstadt geblieben. Ein Bild von der Synagoge, die 1939 abbrennendurch Feuer komplett kaputtgehenabbrannte. Und: die Tora dieser Synagoge. Sein ganzer der Schatz, Schätzehier: Gegenstand, der viel wert istSchatz. Der Tag der Deportation seiner Eltern hat ihn immer begleitenhier: denken anbegleitet. Jeden Tag. „die VergebungVerzeihungVergebung kann es nicht geben“, sagt Schwarzbaum. „Nicht von mir. Nur von den Toten.“

     

    Deutsch perfekt 3/18

    Letzte Chance für die Justiz

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